Aufregend–außergewöhnlich–besonders

> Mirjam Hermsdorf

„Wir wussten eben schon immer, dass du etwas Besonderes bist“, sagte meine Mutter und umarmte mich.

Sie war eben aus dem Krankenhaus gekommen, wo sie gemeinsam mit meinem Vater bei einem Auswertungsgespräch meines vor kurzem aufgezeichneten MRTs war. Seit ungefähr zwei Monaten beeinträchtigten mich dauerhafte Kopfschmerzen und das ausgerechnet kurz nachdem ich ans musische Gymnasium gewechselt hatte. Dort wollte ich mein Abitur im Profilfach Musik absolvieren, um dann meinen Traum, einmal Musicaldarstellerin zu werden, zu verwirklichen. Doch meine Gesundheit erforderte Planänderungen.

Mein Name ist Mirjam Hermsdorf, ich bin 19 Jahre alt und ich besaß schon immer einen sehr fröhlichen, positiven und aufgeweckten Charakter. Ich wuchs in einer Familie mit drei Geschwistern auf. 

Ich war 16 Jahre alt, als in Folge einer Kopfschmerzerkrankung ein gutartiger Hirntumor bei mir entdeckt wurde. Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte. So eine Situation hatte ich vorher ja nie erlebt. Die Kopfschmerzen hatten mich in den vergangenen Wochen genug beeinflusst, und jetzt sollte ich mich auch noch darauf konzentrieren? 

Man entschied, den Tumor erstmal unter Beobachtung zu stellen.

Es vergingen zweieinhalb Jahre, und ich hatte mit so starken Kopfschmerzen zu kämpfen, dass sie zu einem Schulabbruch führten. Daraufhin begann ich ein FSJ und anschließend die Fachoberschule. 

Ich hatte einen Neurologen gefunden, der mich in meiner Krankheitsgeschichte begleitete. Im Herbst 2018 empfahl er zwei Untersuchungen in der Universitätsklinik Regensburg, da der Tumor sich im Laufe der Jahre ein wenig vergrößert hatte. Nachdem ich im Januar 2019 nach Regensburg gefahren war, wurde schnell klar, dass so viel wie möglich vom Tumor durch eine OP entfernt werden sollte. Krass, eine OP?!

Erstmal war ich völlig verwirrt. Doch da ich eine sehr strukturierte Person bin, fing ich gleich an, diese unerwartete OP in meinen Plänen unterzubringen. Da die Februar-Ferien anstanden, sah ich sie als einen geeigneten Zeitpunkt. Meine Mutter konnte mich begleiten und in ihrem dortigen Elternhaus übernachten. Zum ersten Ferientag am 18.2.2019 stand der Termin meiner Hirnoperation an. Mit ein bisschen Aufregung fuhr ich zwei Tage vorher nach Regensburg. Doch nach einem Gespräch mit dem operierenden Arzt, in dem er mich über mögliche Lähmungen, die nach der OP auftreten könnten, aufklärte, wurde mir ganz anders. Weinend fuhr ich nach Hause, denn ich war ängstlich und unsicher. Ich konnte nur beten. 

Doch schon am nächsten Tag begann ich mit einem Mal, etwas in mir zu spüren: Einen Frieden, der sich in meinem Herzen breitmachte und die Angst verdrängte. Dieser Frieden erinnerte mich daran, dass ich keine Angst haben muss. So viele großartige Dinge hatte ich als Christin in meinem Glauben mit Gott bisher erlebt, und nun war mir klar, auch diese OP wird gut werden.

Acht Stunden lang hatte es gedauert, bis meine Mutter schließlich die Information erhielt, dass ich nun auf der Intensivstation lag. Am Morgen der OP hatte ich keine Angst gespürt. Ich wusste, Gott geht mit. 

Erst spät am Abend nach der OP, so gegen 21:00 Uhr, erwachte ich, an vielen Kabeln und Schläuchen hängend. Draußen war es dunkel, und da mein Bett am Fenster stand, drehte ich mich zur Scheibe und konnte zwei große Pflaster auf meinem Kopf betrachten. Auch Hände, Füße, Arme – meinen ganzen Körper konnte ich ohne Einschränkungen bewegen, auch wenn ich dies in den Tagen nach der OP nicht wirklich tat. 

Als ich dann nach fast zwei Wochen wieder zuhause war, begann ich, mich an meine neue Frisur zu gewöhnen. Durch die OP war eine ordentliche Fläche an Haaren abrasiert worden, was erstmal eine sehr unangenehme und ungewohnte Vorstellung war. Stirnbänder gehörten ab sofort zu meinem täglichen Kleidungsstil, und dann schaute ich jede Woche, wie ich meine Frisur mit den unterschiedlich wachsenden Haaren gestalten konnte. Auch hatte die Schule wieder begonnen und nach einigen Wochen des Ausruhens, konnte ich mit Hilfe von Mitschülern langsam wieder in die Schule einsteigen. Und dann waren schon Osterferien.

Mir wurde schwindelig, schlecht und ich fühlte mich ganz komisch. Ich musste raus. Momente wie diesen, als ich eine Veranstaltung verlassen musste, hatte ich auch in den Tagen darauf. Ich musste mich grundlos übergeben und spürte ein innerliches Kribbeln. Außerdem passten meine Körpergefühle nicht mehr mit dem zusammen, was ich in dem Moment eigentlich fühlen sollte. Ich saß an den Hausaufgaben und spürte plötzlich Angst, ohne Grund.

Wir kontaktierten meinen Neurologen und dieser teilte uns mit, dass es sich um eine fokale Epilepsie handelte, welche durch die OP entstanden war. Durch Medikamente wurden die Anfälle gemindert. Trotzdem verwirrten mich meine Körpergefühle ständig. Ich wollte Momente mit Menschen genießen, doch mein Körper sagte mir, dass ich am liebsten wegrennen sollte. Ich versuchte, mich daran zu gewöhnen und bewusst Herrin über meinen Verstand zu sein, damit diese „falschen Gefühle“ nicht beeinflussen können, was ich tue oder lasse.

Ein freundlicher Arzt der Onkologie Regensburg rief uns auf, und meine Mutter und ich begleiteten ihn in ein kleines Büro. In einem Team hatten verschiedene Spezialisten über den weiteren Behandlungsverlauf beratschlagt und uns per Telefon bereits informiert. Da bei der OP nur ein geringer Teil des Tumors entfernt werden konnte, wurde mir eine kombinierte Strahlen- und Chemotherapie vorgeschlagen. Ich hatte mit Unterstützung meiner Lehrer die 11. Klasse trotz Epilepsie geschafft und nun schon wieder Einschränkungen?

Da saß ich nun mit meiner Mutter und hörte mir die vielen Informationen zur Therapie an. Das Wachstum des Tumors, der durch die OP nur wenig kleiner geworden war, sollte aufgehalten werden. Der Arzt erklärte all die Auswirkungen wie Haarausfall, Erschöpfung und weiteres. Dann aber kam für mich das Schlimmste: es könnte sein, dass ich nie eigene Kinder bekommen kann. Einmal schwanger zu werden, war für mich immer schon eine so wunderbare Vorstellung und mit einem Mal wurde dies in Frage gestellt. Ich hatte keine Ahnung, was ich noch denken sollte, ich musste erstmal raus.

Eine halbe Stunde hatte es an diesem Tag nach dem Gespräch gedauert, eine halbe Stunde, in der ich furchtbar geweint und in Tränen ausgebrochen war. Danach überkam mich eine tiefe Ruhe. Nicht nur mein Körper, sondern auch mein Inneres beruhigte sich. Mich überkam wieder dieser Frieden, den Gott mir bereits vor der OP geschenkt hatte. Als „Stille im Sturm“ könnte man es bezeichnen, denn in meinem Leben stürmte es gewaltig. Dieser Frieden war die Erinnerung an Gott und an seinen Plan für mich. Wieder fing ich an zu planen, wann und wo ich die Therapie machen wollte.

Außerdem suchte ich mit meiner besten Freundin Kopfbedeckungen heraus und eine Perücke, falls ich meine Haare verlieren würde. Auch stand noch die Frage im Raum, was ich vorbeugend gegen die eventuell folgende Unfruchtbarkeit tun könnte. Viele Dinge waren zu klären. 

Das schwarze Auto stand bereits auf der Straße. Die Taxifahrerin öffnete mir die Tür, ich stieg ein und schon fuhren wir los. Ich hatte mich entschieden, die Therapie in meiner Heimat zu machen. So konnte ich nachmittags meinen Garten genießen und nachts im eigenen Bett schlafen. Es war ein wunderbar sonniger erster Ferientag, an dem ich zu meiner ersten Bestrahlung fuhr, so wie auch die restlichen 26 Tage meiner Sommerferien. Nicht immer war das Wetter an den Bestrahlungstagen sonnig, aber ich war es. Mein Körper wurde schwächer, doch mein Herz blieb sonnig, denn Gott, meine Familie und viele andere Menschen begleiteten mich.

Obwohl die Chemotherapie während des Schuljahres weiterlief, konnte ich stunden- oder tageweise am Unterricht teilnehmen. Täglich musste ich mich entscheiden, wofür ich meine Kraft einsetzen wollte: Schule oder Selbststudium? 

Jetzt habe ich die Therapie hinter mir, meine 12. Klasse bisher trotz Chemo bewältigt und stehe nun kurz vor meinen Abschlussprüfungen. Die Kopfschmerzen sind noch da, und der Tumor hat sich durch die OP und die Therapie leider nur ein wenig verkleinert. Trotzdem schaue ich mit einem Lächeln im Gesicht auf mein Leben und vor allem auf das letzte Jahr zurück. Aufregend, außergewöhnlich, besonders – diese Worte treffen es ganz gut. Wenn ich die positiven und negativen Dinge meines letzten Jahres aufzählte, würden die positiven schwerer wiegen. Es waren viele Erfahrungen, die ich nicht hätte machen müssen, aber ich bin noch hier. Ich kann mich bewegen, habe wunderbare Menschen um mich herum und ich lebe!

Deine Mirjam Hermsdorf

Mirjam Hermsdorf